M. Leuenberger u.a. (Hrsg.): Versorgt und vergessen

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Titel
Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen


Herausgeber
Leuenberger, Marco; Seglias Loretta
Erschienen
Zürich 2008: Rotpunktverlag
Anzahl Seiten
319 S., zahlr. Abb.
Preis
URL
Rezensiert für infoclio.ch und H-Soz-Kult von:
Marcel Müller, Boswil

Im Rahmen des Nationalfondsprojekts «Verdingkinder, Schwabengänger, Spazzacamini und andere Formen von Fremdplatzierung und Kinderarbeit in der Schweiz im 19. und 20. Jahrhundert» wurden in den Jahren 2005 bis 2008 die mündlichen Lebensberichte von über 270 ehemaligen Verding- und Heimkindern gesammelt, d.h. von Kindern, die sich Kost und Logis zumeist mit ihrer Arbeitsleistung erst verdienen mussten. Der nun vorliegende Band vereinigt 40 Kurzporträts, wobei es den Autorinnen und Autoren nicht darum ging, «besonders krasse Missbrauchsfälle an die Öffentlichkeit zu bringen, sondern einem breiten Spektrum von Verdingkinderschicksalen Raum zu geben und in den Kontext der damaligen Lebensverhältnisse und Geisteshaltung zu stellen». Die Lebensberichte werden denn auch durch thematische Kapitel zum Verdingwesen ergänzt, welche die wirtschaftlichen Ursachen und die sozialen bzw. häufig auch traumatischen Folgen für die Betroffenen erörtern.

Verschiedene Gründe wie Armut oder Scheidung der Eltern konnten zu einer behördlichen Kindswegnahme mit anschliessender Fremdplatzierung führen. Zumeist auf einem bäuerlichen Betrieb verkostgeldet, waren Verdingkinder als Gesinde lukrativer als erwachsene Knechte oder Mägde, da man über das für sie gezahlte Kostgeld hinaus auch noch umsonst über ihre Arbeitskraft verfügen konnte. Für die Industrie galt mit dem 1877 erlassenen eidgenössischen Fabrikgesetz zwar ein Arbeitsverbot für Kinder unter vierzehn Jahren. Eine entsprechende gesetzliche Regelung für die Landwirtschaft existierte indes nicht; noch in den 1930er Jahren beispielsweise machten Kinder unter fünfzehn Jahren knapp zwanzig Prozent aller ständigen Arbeitskräfte in der Landwirtschaft aus. Schulbesuch und Berufslehre – so das Fazit eines gleichlautenden Kapitels – galten als Nebensache. Zwar verpflichtete auch hier Artikel 27 der Bundesverfassung von 1874 die Kantone zu genügendem Primarunterricht. Trotzdem ging die Arbeit auf Feld und Hof vielerorts vor, mit verständnisvoller Duldung durch Lehrkörper und Schulbehörden.

Mit diesen sozio-ökonomischen Umständen und Zwängen sahen sich grundsätzlich auch viele nichtverdingte Kinder konfrontiert. Der Übergang zwischen einer Mithilfe in der familiären Produktionseinheit und gesundheitsgefährdender Kinderarbeit war diesbezüglich wohl in vielen Fällen fliessend. Die von Paul Senn in den 1940er Jahren aufgenommenen und in einer eindrücklichen Bildstrecke wiedergegebenen Photographien von Verding- und Heimkindern zeigen vordergründig ein in seiner Ärmlichkeit alltägliches kleinbäuerliches Milieu. Die soziale Stigmatisierung und ihre Folgen, die die Photographien verschweigen, kommen erst in den Kindheits- und Jugendschilderungen zur Sprache. Ausbeutung, Gewalt und soziale Ausgrenzung dominierten das Leben vieler Verdingkinder in einem solchen Ausmass, das auch ihrem Umfeld nicht verborgen blieb. Die aus der Erniedrigung und Isolation resultierenden Schuld- und Schamgefühle verfolgten viele Verdingkinder bis ins Erwachsenenalter hinein, und nicht wenige verschwiegen später ihre leidvollen Erfahrungen selbst gegenüber Ehepartnern und Kindern. Für manche schliesslich wurde das von den Basler Professoren Heiko Haumann und Ueli Mäder geleitete Forschungsprojekt zum Anlass einer persönlichen Aufarbeitung.

Auch wenn es Pflegekinder gab, denen es nach einer Fremdplatzierung gut oder gar besser als vorher erging, drängt sich die Frage auf, wie die gravierenden negativen Auswüchse des Pflegekinderwesens so lange in diesem Ausmass von Gesellschaft und Behörden toleriert werden konnten. Versorgt und vergessen bietet hierzu durchaus Erklärungsansätze. Die Gemeindebehörden und vormundschaftlichen Organe seien sich – so Katharina Moser in ihrem Beitrag – über ihre Pflichten im Pflegekinderwesen häufig nicht im Klaren gewesen. Vielleicht schätzten sie aber auch die Geisteshaltung der Pflegeeltern falsch ein: Viele der ehemaligen Verdingkinder berichten von veritablen Potemkinschen Dörfern, mit denen ihre Peiniger den – zumeist angekündigt erscheinenden – Vormündern eine gute Behandlung ihrer anvertrauten Schützlinge vorgaukelten. Auch wenn die mangelhafte oder gar unterlassene Pflegekinderaufsicht selbst vonseiten der Behörden verschiedentlich kritisiert worden sei, ist gemäss Katharina Moser augenfällig, dass die Behörden die Pflegeplätze weit weniger streng beurteilten als die Lebensverhältnisse in den Herkunftsfamilien der Kinder. Besonders in ländlichen Gebieten sei die Kontrolle der Pflegeplätze zudem durch die persönlichen Beziehungen und Kontakte stark eingeschränkt gewesen.

Sprachlos bleibt man indes angesichts des kruden Sadismus und der tausend Spielarten von Gewalt, mit denen viele der Kinder gequält wurden. Hier, wo die analytischen Instrumentarien der Geschichts- und Sozialwissenschaften zwangsweise versagen müssen, paraphrasieren die entsprechenden Themenkapitel zu einem grossen Teil die Lebensberichte. Den zahlreichen Missbrauchsschilderungen steht dabei leitmotivisch immer das Wegschauen zur Seite. Auch wenn Lehrer, Nachbarn oder Paten bisweilen eine Umplatzierung erreichten, wurde das Leiden der drangsalierten Kinder vom (mit)wissenden sozialen Umfeld zumeist ignoriert. Auch wenn früheres Nichteingreifen der staatlichen Behörden den Betroffenen und den – bezüglich Verantwortung zunehmend delegierungsfreudigen – Nachgeborenen als ungeheuerlich erscheint, liegt das eigentliche Skandalon in der fehlenden Zivilcourage der Einzelnen. Diese demokratische Tugend, auf die viele Verdingkinder nicht zählen konnten, erscheint gerade nach Lektüren wie Versorgt und vergessen als erste Bürgerpflicht – im Hier und Jetzt.

Zitierweise:
Marcel Müller: Rezension zu: Marco Leuenberger, Loretta Seglias (Hg.): Versorgt und vergessen. Ehemalige Verdingkinder erzählen. Zürich, Rotpunktverlag, 2008. Zuerst erschienen in: Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 375-377.

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Zuerst veröffentlicht in

Schweizerische Zeitschrift für Geschichte, Vol. 59 Nr. 3, 2009, S. 375-377.

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